28. März 2024

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Juristische Aufarbeitung nach Corona bei Tönnies läuft

Vor einem Jahr im Landkreis Gütersloh: Nach einer Vielzahl von Corona-Infizierten im Schlachtbetrieb Tönnies wird der Betrieb dicht gemacht, Kitas und Schulen müssen schließen. Eine Bilanz.

Mitte Juni vor einem Jahr: Nach dem massenhaften Ausbruch des Coronavirus unter den Beschäftigen des Schlachtbetriebs Tönnies zieht der Kreis Gütersloh die Reißleine.

Alle 7000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen in Quarantäne, Landrat Sven-Georg Adenauer (CDU) macht den Laden vorübergehend dicht. Bis zu den Sommerferien dürfen auch Kitas und Schulen nicht mehr öffnen. Die Sieben-Tage-Inzidenz im Kreis steigt in Richtung 300. Urlaubsregionen in Deutschland machen die Schotten dicht, Menschen aus der Region sind nicht mehr willkommen. Was ist seitdem passiert? Ein Überblick in verschiedenen Kategorien: 

JUSTIZ I:

Nach etwa 50 Anzeigen gegen die Tönnies-Geschäftsführung – darunter auch Clemens Tönnies – ermittelt die Staatsanwaltschaft Bielefeld. Dabei geht es um fahrlässige Körperverletzung und Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz. Nach Angaben von Sprecher Moritz Kutkuhn sind die Ermittlungen (Stand Mitte Juni 2021) noch nicht abgeschlossen.

TÖNNIES:

Mitte Mai 2020 hatte Marktführer Tönnies die ersten Corona-Fälle, Anfang Juni gingen die Zahlen dann steil nach oben. «Der Ausbruch in unserem Werk war einfach zu früh. Im Juni haben doch alle geglaubt, Corona sei unter Kontrolle. So haben wir dann ein paar Monate vor allen anderen erlebt, was in der zweiten und dritten Welle überall in Deutschland passiert ist», sagt Gereon Althoff, der bei Tönnies das Qualitätsmanagement und Veterinärwesen leitet. «Wir konnten uns bei den Infektionszahlen im Unternehmen in der zweiten und dritten Welle dann von denen in der Allgemeinbevölkerung entkoppeln.» Das Konzept: Zwei Tests pro Woche pro Mitarbeiter per PCR. «Wer positiv ist, wird erkannt, bevor er überhaupt Symptome hat. So können wir Infektionsketten durchbrechen und haben bei uns keine Dunkelziffer», sagt Althoff der Deutschen Presse-Agentur.

Mängel sieht das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium noch bei der Umsetzung des Abstandsgebotes in den Unternehmen sowie beim Tragen des Mund-Nasen-Schutzes. Hier seien bei Kontrollen wiederkehrend Verstöße entdeckt worden.

AEROSOLE:

Im Mai habe man gelernt, dass Aerosole das Problem sind, sagt Althoff. «Dieses Phänomen der Übertragung über die Lüftung war bis dato keinem Experten bekannt – uns leider auch nicht.» Heute werde in den Produktionsräumen alle zehn Minuten die komplette Luft durchgefiltert, für die Luftfilter wurden Althoff zufolge Millionen ausgegeben. Erste Hinweise auf die Problematik hatte Tönnies nach eigenen Angaben bei einem begrenzten Infektionsgeschehen in der Rinderzerlegung im Mai. «Wie in einem Laborversuch konnte man letztendlich nachvollziehen, was da passiert war.»

ARBEITER:

Die Bundesregierung hat mit Beginn des Jahres 2021 Werksverträge in Kernbereichen der Branche verboten. Bis Ende 2020 stockten daher die großen Firmen Tönnies (7,3 Milliarden Euro Umsatz 2019), Vion (5,1) und Westfleisch (2,8) ihre Stammbelegschaft um insgesamt rund 12.300 Mitarbeiter auf. Anfang Juni vermeldeten Gewerkschaft und Fleischindustrie die Einigung auf einen Mindestlohn. Die Lohnuntergrenze liegt bei 10,80 Euro und soll bis 1. Dezember 2023 auf 12,30 Euro angehoben werden. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 9,50 Euro und steigt bis zum 1. Juli 2022 auf 10,45 Euro.

JUSTIZ II:

Wegen der Schließungsverfügung für das Werk in Rheda-Wiedenbrück war der Tönnies-Konzern vor das Verwaltungsgericht Minden gezogen. Nach Angaben einer Gerichtssprecherin liegt derzeit (Stand Juni 2021) noch keine Klagebegründung vor. Um diese einzureichen, hatte Tönnies weitere Akteneinsicht in die Verwaltungsvorgänge des Kreises beantragt.

JUSTIZ III:

Zwischen der Fleischindustrie und dem Land hatte sich ein Streit um die Erstattung von Verdienstausfall entwickelt. Das Gesundheitsministerium hatte den Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) angewiesen, entsprechende Anträge abzulehnen. Laut Infektionsschutzgesetz können Betriebe Entschädigungen beantragen, wenn die Unternehmen durch die Behörden geschlossen wurden. Daraufhin erreichte die Verwaltungsgerichte eine Klagewelle. In Minden und Münster sind es den Angaben nach jeweils mehrere Hundert Fälle. Um der Masse der Verfahren Herr zu werden, einigten sich die Beteiligten in Minden auf ein Musterverfahren. In Münster wird derzeit sondiert und in Absprache mit den Unternehmen nach vergleichbaren Fällen gebündelt.

INFEKTIONSZAHLEN:

Was bundesweit für Aufregung sorgte, also eine hohe Sieben-Tage-Inzidenz mit Spitzen weit über 200 in der Region um den Schlachtbetrieb von Tönnies, gab es dann durchgehend in ganz Deutschland in der zweiten und dritten Welle. Haben die Behörden im Kreis Gütersloh also Mitte Juni 2020 zu heftig reagiert?

Das NRW-Gesundheitsministerium von Karl-Josef Laumann (CDU) weist das auf Nachfrage zurück. Die Verbreitung der Krankheit musste in Deutschland und weltweit so gut wie möglich verlangsamt werden. «Im Kreis Gütersloh lag der Wert am 22. Juni 2020 bei 315. Im Vergleich lag die Sieben-Tages-Inzidenz pro 100.000 Einwohnern im Kreis Bielefeld an diesem Tag bei 5,4 und in ganz NRW bei 12,6. Durch die Reduzierung von u.a. touristischem Reiseverkehr sollte die Verbreitung in andere Landkreise bzw. Bundesländer mit deutlich geringeren Infektionszahlen verhindert werden», teilte eine Sprecherin mit.

GEWERKSCHAFT:

Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) macht weiter Missstände aus. «Viele Probleme sind nicht vom Tisch«, sagte NGG-Vertreter Thorsten Kleile dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. «Einige alte Probleme bestehen fort, und die Übernahme tausender Beschäftigter von Subunternehmern bringt neue Probleme mit sich.»

Von Carsten Linnhoff, dpa