29. März 2024

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Ökonomen sehen deutsche Wirtschaft vor dem Auschwung

Die Coronazahlen sinken, das öffentliche Leben erwacht, Menschen holen lang Entbehrtes nach: Volkswirte gehen von einem milliardenschweren Konsumstau aus, der sich nun auflöst.

Die deutsche Wirtschaft steht nach Einschätzung von Konjunkturforschern vor einem kräftigen Aufschwung.

Nach der tiefen Corona-Rezession 2020 und der erneuten Vollbremsung Anfang 2021 dürfte der Konjunkturmotor allerdings nicht mit dem von Vizekanzler Olaf Scholz erhofften «Wumms» starten – sondern eher in zwei Stufen zünden, wie mehrere Forschungsinstitute in ihren aktuellen Prognosen berichteten.

Wesentliche Stütze ist demnach zunächst nur der private Konsum. In der Industrie dürfte es wegen der erheblichen Störungen in den globalen Lieferketten erst in der zweiten Jahreshälfte rund laufen: Das Verarbeitende Gewerbe sitzt zwar auf prall gefüllten Orderbüchern, kann die Aufträge wegen Lieferengpässen bei Rohstoffen und Vorprodukten aber oft nicht abarbeiten.

Verzögerung in der Industrie

«Vorerst verzögern wird sich die Erholung jedoch in der Industrie. Die weltweit kräftige Erholung hat vielschichtige Lieferengpässe mit sich gebracht, die die Produktion vieler Unternehmen spürbar behindern», heißt es beim IfW. Trotz der sehr guten Auftragslage werde die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe «deshalb wohl erst in der zweiten Jahreshälfte wieder nach und nach auf ihren Erholungskurs einschwenken». Zudem stößt die Nachfrage nach Einschätzung des Dekabank-Chefvolkswirts Ulrich Kater zunehmend auf Grenzen bei ihren Kapazitäten, die in der Pandemie eher geschrumpft sein dürften.

In Summe sind die Erwartungen der Wirtschaftsforscher allerdings durchweg positiv: «Deutsche Wirtschaft mit spätem Frühlingserwachen», heißt es beim Berliner DIW. Der Konjunkturchef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths sagt: «Der deutsche Konjunkturkessel steht unter Dampf.» Oder: «Die Konjunktur in Deutschland nimmt im Zuge der Lockerungen der Infektionsschutzmaßnahmen wieder Fahrt auf», heißt es beim Konjunkturchef des Essener RWI, Torsten Schmidt.

2020 war die Nummer vier der Weltwirtschaft unter dem Eindruck der Coronapandemie um 4,8 Prozent eingebrochen. Das IfW rechnet nun für 2021 mit einem Wirtschaftswachstum von 3,9 Prozent (Märzprognose: 3,7). Das DIW traut der größten europäischen Volkswirtschaft einen Zuwachs von 3,2 (zuvor: 3,0) Prozent zu – und das RWI stockte seine Erwartungen auf 3,7 (3,6) Prozent auf. Einzig das Münchner Ifo-Institut hatte am Vortag auf 3,3 (3,7) Prozent reduziert – und dabei die Bremseffekte der Lieferengpässe in den Vordergrund gerückt.

Prognose: Deutlich stärkeres Wachstum 2022

Für 2022 gehen alle Forscher von einem deutlich stärkeren Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) aus: Die Vorhersagen liegen zwischen 4,3 Prozent (Ifo und DIW) und 4,7 (RWI) oder 4,8 Prozent (IfW). Der vor Corona boomende deutsche Arbeitsmarkt sollte damit den Prognosen zufolge – gemessen an Beschäftigten- und Arbeitslosenzahlen – im kommenden Jahr wieder an das Vorkrisenjahr 2019 anknüpfen.

Bei den privaten Haushalten haben die immer wieder nötigen Lockdowns mit Schließungen beispielsweise von Einzelhandel, Fitnessstudios oder Kinos zu einem gewaltigen Konsumstau geführt, der zu beispiellosem Sparen geführt hat: «Im Vergleich zu einem Szenario, in dem die Sparquote auf ihrem Vorkrisenniveau verblieben wäre, beträgt unserer Prognose zufolge die im vergangenen und in diesem Jahr aufgestaute Kaufkraft zusammengenommen rund 200 Milliarden Euro bzw. 10 Prozent des verfügbaren Einkommens (im Jahr 2019)», schreiben die IfW-Konjunkturforscher.

Auch die staatlichen Stützungsleistungen – zum Beispiel die Mehrwertsteuersenkung in der zweiten Hälfte 2020 sowie monetäre Sozialleistungen wie Kurzarbeitergeld – hätten sich zu einem großen Teil bislang aufgestaut.

Mit der sukzessiven Lockerung der Corona-Maßnahmen erwacht nun das öffentliche Leben – und das bei den Haushalten zurückgehaltene Geld rollt auf Händler, Dienstleister und Gastronomen zu. Das IfW erwartet, dass damit die privaten Konsumausgaben 2021 um 2,4 Prozent und 2022 sogar um 8,2 Prozent zulegen – mit einem Unsicherheitsfaktor: «Es ist weiterhin offen, wieviel der zwischenzeitlich aufgestauten Kaufkraft für zusätzliche private Konsumausgaben aufgewendet werden wird.»

Alle Prognosen «auf wackligen Beinen»

Zudem ist noch lange nicht ausgemacht, ob sich die Corona-Lage weiter entspannt. Alle Prognosen stünden «auf wackligen Beinen, solange die Corona-Pandemie nicht nachhaltig eingedämmt ist», hob das DIW hervor. «Insbesondere die Dienstleistungsbereiche profitieren jetzt von den Lockerungsmaßnahmen», sagte dessen Konjunkturexperte Claus Michelsen. «Erst wenn die Impfquote so hoch ist, dass zumindest annähernd eine Herdenimmunität erreicht ist, werden wir einen nachhaltigen Aufschwung erleben.»

Schließlich bleibt auch offen, wie sich die Transportlage im internationalen Seeverkehr entwickelt, die bei vielen Unternehmen als Stolperstein auf dem Weg aus der Coronakrise gilt. Die Pandemie hat die Linienpläne auf den maritimen Schlagadern rund um den Globus seit langem kräftig durcheinandergewirbelt. Der tagelange Stau im Suezkanal – ausgelöst durch die Havarie des Containerfrachters «Ever Given» im März – beeinträchtigte die ohnehin angespannten Lieferketten zusätzlich.

Als neuestes Problem kam ein Corona-Ausbruch in China hinzu, der im riesigen Hafen von Yantian in der chinesischen Provinz Shenzen Reedereien zu Planänderungen zwingt. Namhafte Industrieverbände hatten angesichts dieser Lage in einem Brandbrief an die Bundesregierung auf Verschlechterungen bei Zuverlässigkeit und Qualität im Container-Seeverkehr hingewiesen, insbesondere auf den Strecken zwischen Asien, Nordamerika und Europa.

Von Thomas Kaufner, dpa